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Perspektivwechsel

Ich habe den Tag einer Einschulung aus zwei verschiedenen Perspektiven beschrieben und kommentiert. Was fällt auf?


Ich-Perspektive

Mein erster Schultag

Mama öffnet vorsichtig die Tür und schaut, ob ich schon wach bin. Das macht sie jeden Morgen und dabei stelle ich mich oft schlafend. Auch jetzt kommt sie zu mir ins Bett und streichelt meinen Rücken, um mir flüsternd einen „Guten Morgen!“ zu wünschen. Aber heute ist etwas anders, denn sie hat es mit „mein großes Mädchen“ ergänzt. Also muss heute der besondere Tag sein.
Nach dem Frühstück werde ich fein gemacht. Die Haare ziepen, während Mama versucht, meine wilden Locken zu bändigen. Aber die Schleifen gefallen mir gut und der neue Rock mit der Bluse auch.
Meine große Schwester Annika steht eifersüchtig daneben und schmollt.

     „Die Schultüte ist viel zu groß!“, sagt sie.
Ich höre ihr aber nicht richtig zu und auch nicht auf das, was Mama ihr sagt. Ich habe nur einen Blick für die Schultüte. Sie ist weiß mit roten Zahlen und Buchstaben. Daneben steht mein neuer Schulranzen und der ist auch weiß mit bunten Zahlen und Buchstaben. Ich weiß jetzt schon, dass ich den Schulranzen sehr lieb habe. Trotzdem habe ich meine Zweifel. Annika geht schon lange in die Schule und ist in der vierten Klasse. Obwohl Mama immer sagt, dass sie gerne in die Schule gegangen ist und sie sofort mit mir tauschen würde, sieht es Annika wohl anders. Wie oft kommt sie schlecht gelaunt nach Hause und macht zerknirscht ihre Hausaufgaben. Ich glaube, sie würde viel lieber dreimal am Tag Brokkoli essen, als in die Schule zu gehen. Vielleicht sollte ich es mir doch überlegen, ob ich unbedingt jetzt schon in die Schule gehen Möchte. Ich bekomme Angst und höre mich fragen: „Muss ich denn wirklich in die Schule?“
Mama streichelt mir gedankenverloren den Kopf.
    „Im Grunde haben wir das nicht zu entscheiden. Wieso fragst du? Freust du dich denn nicht? Heute ist dein großer Tag, meine liebe Yvonne. Und du wirst sehen, dass du kein kleines Kind mehr bist und auch keines sein willst.“
Ich weiß nicht, ob ihre Worte mich beruhigen sollen. Dennoch frage ich mich, wie ich denn von jetzt auf gleich groß werden kann. Mama bekommt schon nicht mehr mit, wie ich noch Fragen in meinem Kopf habe. Sie ist aufgeregt und ab und zu läuft sie hektisch herum. Papa beschäftigt sich lieber mit seinem neuen Fotoapparat. Immer wieder zupft Mama an mir herum und bestimmt, was Papa noch machen soll. Ich kann es kaum erwarten, dass es endlich losgeht. Warten ist sehr langweilig. Großwerden dauert definitiv zu lange.
    Dann ist es so weit. Mama möchte, dass ich mich beeile. Ich schaue so gerne zu, wenn Papa ihr in die Jacke hilft, und dabei vergesse ich oft, mich weiter anzuziehen. Mama versteht das leider nicht und ist ungeduldig mit mir. Kaum gehen wir durch die Haustür, rufe ich laut: „Wir haben meine Schultüte vergessen!“ Schnell hole ich sie. Papa möchte, bevor wir den Schulweg das erste Mal gehen, dauernd Fotos machen. Ich stehe dafür mal vor der Haustür und dann vor dem Zaun, dabei wird mir die Schultüte sehr Schwer. Mir rutscht sie fast aus den Händen. Mama atmet einmal tief durch und nimmt mir die Tüte ab. Sie geht in die Hocke und streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich möchte jetzt das letzte Mal kurz auf den Arm.
    Den ganzen Schulweg gehe ich vor und ich fühle mich schon ein bisschen größer. Plötzlich stehen wir vor einem furchteinflößenden Gebäude.

    „Das ist deine Schule“, sagt Mama. Zu meiner Sicherheit begleitet mich mein grüner Stoffdinosaurier Bonzo mit seinen roten Platten auf dem Rücken die Treppe zum Schulhof hinauf. Dann findet er seinen neuen Platz auf dem Arm von Mama. Ich höre laute Kinderstimmen.
Und da ist sie wieder - meine Neugier! Auf dem Schulhof sind schon einige Kinder, und viele haben große Schultüten. Die Schulglocke unterbricht meine Gedanken. Alle Kinder stellen sich in Reihen auf.
Meine Aufregung steigt und ich spüre ein beklemmendes Gefühl. Meine Lehrerin, Frau Schmidt, begrüßt mich herzlich und stellt mich neben meiner Freundin Verena hin, die ganz anders aussieht als sonst. Mit dem lila Cordkleid und ihren offenen Haaren, die sie sonst zum Zopf trägt, wirkt sie ganz fremd.

Alle Mamas und Papas strahlen vor Stolz. Besonders Mama winkt mir viel zu und Papa versteckt sich in hinter dem Fotoapparat. Nun spüre ich es.
    „Das ist also der Ernst des Lebens! Ab jetzt bin ich auch groß!“, sage ich zu mir und ich lächele jetzt auch. Wenig später folge ich den anderen Kindern ins Klassenzimmer. Ich freue mich vom ganzen Herzen auf das, was nun kommt.
© 2018 Maren Vollmer

Kommentar:
Die kleine Yvonne hat es gut. Ihre Eltern kümmern sich liebevoll um sie. Und doch gibt es einen Konflikt: Yvonne bekommt es irgendwann mit der Angst zu tun. Will sie wirklich schon groß sein? Schafft sie das überhaupt? Aber als sie auf dem Schulhof steht und die anderen Kindern reden und lachen hört, fasst sie wieder Mut. Ich habe, um das deutlich zu machen, den Stoffdinosaurier als Symbol gewählt – sie drückt ihn der Mutter in die Hand, weil sie sich stark genug fühlt. Das ist eine gute Idee. Der Text ist gelungen, weil wir über die Ängste und Hoffnungen der Erzählerin erfahren, daher fällt es uns leicht, uns in sie hinein zu versetzen. Eine gute Idee ist es auch, gelegentlich Dialoge einzubauen. So wird die Handlung szenisch und die Figuren plastisch. Dies dient als positives Beispiel.


 

Interner Erzähler der dritten Person

Yvonnes großer Tag

Heute ist Yvonnes großer Tag. Vorsichtig öffnet Manuela die Tür vom Kinderzimmer und späht hinein. Und da sie weiß, dass ihre kleine Tochter Yvonne gerne noch etwas im Bett liegen bleibt, legt sie sich dazu und genießt das morgendliche Kuscheln mit ihr. Dieser Morgen verläuft jedoch anders, als gewöhnlich.
   „Guten Morgen, mein großes Mädchen!“, sagt sie und sie spürt den dicken Kloß in ihrem Hals. Sie drückt ihre Tochter fester an sich und streicht ihr durchs wirre Haar. Ihr jüngstes Kind wird heute eingeschult.
Nach dem Frühstück beginnen die Vorbereitungen. Gewissenhaft macht sie ihrer Tochter zwei Zöpfe und wiederholt bleibt die Haarbürste in den Haaren hängen. Immer wieder geht sie gedanklich den Tag durch und wünscht ihrer kleinen Tochter den besten Start ins Schulleben. Es muss einfach perfekt werden.

   „Mama, die Schultüte ist viel zu groß!“, mault ihre große Tochter Annika.
Manuela weist sie zurecht und schickt sie zum Anziehen in ihr Zimmer. Für eine Eskalation hat Manuela keine Nerven. Sie möchte unbedingt, dass der Tag harmonisch wird. Die Frisur ist fast vollendet, als das angehende Schulkind seine Mutter in ihren Gedanken unterbricht.

   „Muss ich denn in die Schule?“

Manuela streichelt ihr lieb den Kopf.

  „Im Grunde haben wir das nicht zu entscheiden. Wieso fragst du? Freust du dich denn nicht? Heute ist dein großer Tag, meine liebe Yvonne. Und du wirst sehen, dass du kein kleines Kind mehr bist und sein willst“, sagt sie und wünscht sich insgeheim, dass sie auch gerne eine Wahl gehabt hätte.
Manuela bellt ihrem Mann Achim die Befehle zu, denn er scheint sich mehr mit seinem Fotoapparat zu beschäftigen, als mit etwas anderem. Sie  wird zunehmend aufgeregter und nervöser, denn sie möchte, dass alles reibungslos klappt. Obwohl sie so nicht zu einer entspannten Atmosphäre beiträgt. Dann wirft sie einen hektischen Blick Auf die Wanduhr und ruft die Familie herbei. Jetzt ist es Zeit, sich auf den Weg zu machen.

   Immer wieder ermahnt sie ihre träumende Tochter zum schnelleren Anziehen. Kaum sind sie durch die Tür, fällt dem angehendem Schulkind auf, dass es fast die Schultüte vergessen hat. Yvonne verschwindet fast hinter der Schultüte und auch hier verschießt Achim ein Bild nach dem anderen. Yvonnes Lächeln mit den vielen Zahnlücken wirkt angestrengt. Manuela nimmt den Stress aus der Situation raus, indem sie sich zu ihr hinhockt, ihr eine Strähne aus dem
Gesicht streicht und ihr die Schultüte abnimmt.
   Gemeinsam gehen sie den Schulweg und Manuela beobachtet ihre kleine Tochter, wie sie voranschreitet und stolz ihren Schulranzen trägt. Dabei sinniert sie über die vergangenen Jahre und fragt sich, warum Kinder so schnell groß werden müssen. Eben noch hält sie ein Baby im Arm und nun wird Yvonne schulpflichtig. Bei ihrer kleinen Tochter fällt es ihr schwerer loszulassen und sie vermutet, dass sie immer ihr kleines Baby bleiben wird, egal wie groß sie wird.
   Als der Weg bei der Schule endet, bleibt Manuela melancholisch. Sie nimmt ihre kleine Tochter an der Hand und muss nun doch darüber schmunzeln, dass Yvonne die Stufen bis zum Schulhof mit ihrem Stofftier meistert. Dieser Stoffdinosaurier ist immer dabei.
Am Ende der Treppe drückt Yvonne ihrer Mutter ihren Dinosaurier in die Arme. Manuela verspricht ihr, dass sie gut auf ihn aufpassen wird, und dabei überkommt ihr ein Gefühl, dass es wohl das letzte Mal war, dass der Dinosaurier ihr helfen musste. Nun macht ihr Mann noch ein Bild vor dem Schulgebäude. Die Geräuschkulisse wird lauter.

Yvonne jammert: „Aua, Mama, drück meine Hand nicht so fest, lass mich los!“
   „Wenn das so einfach wäre, mein Schatz!“

Manuela fließen die Tränen nun endgültig aus den Augen. Ihre Gedanken rasen.

   Nein, ihr nehmt mir mein Kleines nicht weg. Ich nehme sie einfach mit und gehe mit ihr im Sandkasten buddeln!
In diesem Moment wird Yvonne aufgerufen. Sie geht nach vorne, sie lächelt scheu und unsicher hinter ihrer Schultüte. Ein großes Lächeln verdrängt Manuelas Tränen. Immer wieder rufen die Eltern ihren Kindern etwas aufmunternd zu. Manuela steht ermahnend neben Annika und winkt dabei Yvonne enthusiastisch zu.
   „Wie groß und abgeklärt sie da wirkt, zwischen den aufgeregten und weinenden Kindern“, stellt Manuela fest.
Und da sieht sie auf einmal ein selbstbewusstes Lächeln von Yvonne, das ihr das Loslassen einfacher macht. Manuela ist noch stolzer auf ihre Tochter und drückt die Hand von ihrem Mann.
© 2018 Maren Vollmer

Kommentar:
Diese Perspektive ist schwerer zu beschreiben, aber sie ist besonders wichtig, weil sie für die meisten Romane und Kurzgeschichten benutzt wird. Der Autor muss es aber schaffen, eine ebenso große Nähe zu Helden herzustellen wie bei einer Ich-Erzählung. Das gelingt hier hauptsächlich über Gedanken und Gefühle. Man kann sich in dem Fall auch problemlos in Manuela hineinversetzen. Aber ich habe Manuela immer in die gleiche Richtung denken lassen wie die kleine Yvonne. Vielleicht wirkt dieser Text deshalb auch auf mich künstlich und dient als ein negatives Beispiel. In der Realität würde Manuela vermutlich von ganz anderen Gedanken gequält werden. Vielleicht kennt sie die Lehrerin und kann sie nicht leiden. Vielleicht macht sie sich Sorgen um die neidische Annika. Vielleicht regt ihr Mann sie mit dem ewigen Fotografieren auf, vielleicht befürchtet sie wieder schwanger zu sein … Es gibt viele Möglichkeiten, wie man den Schwerpunkt der Geschichte verschieben könnte. Und ich glaube, dann käme mir Manuela als Figur auch nicht mehr so künstlich vor.


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